Linguizismus bezeichnet Vorurteile, Geringschätzung oder eine nicht sachlich begründete Ablehnung gegenüber Sprachen und ihren Sprechern.
Oft handelt es sich dabei um Minderheitensprachen oder Sprachen bzw. Ausdrucksweisen bestimmter sozialer Gruppen.
Woher das kommt und wie sich Linguizismus im Alltag zeigt kannst du in unserem Leitartikel lesen:
von Seggen Mikael
Ich weiß nicht wie oft ich den Satz: „Ich kann Deutsch sprechen.“ Schon sagen musste. Ich bin Schwarz und sehe für viele Menschen, deshalb nicht „deutsch genug“ aus. Die meisten Menschen reagieren dann recht schnell entschuldigend oder sagen: „Sie können aber gut deutsch.“, andere aber auch patzig und sich verteidigend: „Das kann ich ja nicht wissen.“. Hier liegt aber der entscheidende Punkt: Man* kann es nicht wissen und trotzdem nehmen viele einfach vorverurteilend an, dass ich nicht Deutschen sprechen kann aufgrund des Aussehens und reflektieren ihre eigenen Aussagen nicht.
In meiner Jugend hat man* teilweise „scherzhaft“ zueinander gesagt „Kauf dir mal `ne Tüte Deutsch!“, wenn jemand sich falsch ausgedrückt hat oder die Grammatik nicht ganz richtig war. Uns war also schon seit unserer Kindheit so bewusst, wie wichtig korrektes Deutsch ist, weil wir und andere zu uns gesagt haben: Geh erstmal Deutsch lernen, bevor du mit mir redest. In dem Versuch uns diesen Satz anzueignen, haben wir die Kritik an unserem Deutsch weitergetragen. Das wesentliche Problem ist: in Deutschland hat man oft das Gefühl, wenn man kein perfektes Deutsch spricht ist man nichts wert innerhalb der Gesellschaft.
Sprachen werden nicht objektiv bewertet, sondern aufgrund ihres zugeschriebenen Bildungswert in prestigeträchtige und nicht prestigeträchtige Sprachen unterschieden. Diese konstruierten Unterschiede führen dazu, dass z.B. die Beherrschung von Englisch, Spanisch und Französisch als positive Sprachkenntnisse angesehen werden, während Türkisch, Kurdisch oder Arabisch als für den Arbeitsmarkt nutzlos und nicht wichtig gewertet werden. Wenn Schüler*innen diese als Erstsprache haben, aber ihnen keinen Bildungswert zukommt oder sie aktiv daran gehindert werden diese in der Schule zu sprechen, dann ist das (Neo-) Linguizismus. Es geht also um die Abwertung von Menschen, welche eine bestimmte Sprache oder ein Sprache auf eine bestimmte Art und Weise (z.B. mit einem Akzent) sprechen. Linguizismus ist eine spezielle Form des Rassismus, die aus der Kolonialpolitik der europäischen Ländern stammt. Diese verwendeten es zur Machtausübung und strukturellen Unterdrückung der einheimischen Sprachen. Bis heute kann man* die Auswirkungen dieser Politik daran erkennen, wie dominant die europäischen Sprachen in ihren ehemaligen Kolonialgebieten noch sind. Der Neo-Linguizismus befasst sich mit subtileren Formen der Ausgrenzung und dem Zwang der Assimilation.
Wenn ich mit migrantischen Freund*innen über das Thema rede, dann haben die meisten bereits Erfahrungen mit (Neo-)Linguizismus auf die eine oder andere Weise gemacht. Eine Freundin erzählte mir, dass es ihren Eltern aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen nach der Flucht super wichtig war, dass sie als Kind gut Deutsch spreche, damit sie später im Leben mehr Chancen hat. Um einen Anreiz und vielleicht auch Druck aufbauen, die Mehrheitssprache besser zu lernen musste zu Hause jede*r der russisch spricht 5 Mark in ein Glas tun. Durch diese Erfahrungen hatte sie aber auch das Gefühl, dass ihr „Deutsch Sein“ an die Bedingung geknüpft ist, die Sprache sprechen zu müssen und es ihr ansonsten aberkannt wird.
Eine andere Freundin von mir redete bis zum Kindergarten nur vietnamesisch mit ihren Eltern. Als sie in den Kindergarten kam meinte die Erzieherin, dass ihre Eltern ab jetzt nur noch Deutsch mit ihren Kindern sprechen sollen, sonst würde nichts aus ihnen werden. Auch sie hatten bereits negative Erlebnisse gemacht, weil sie erst im Alter Deutsch gelernt haben. Die Angst, den eigenen Kindern später Chancen zu verbauen war auch hier die treibende Kraft vietnamesisch zu Hause zu verbannen und nur noch deutsch zu reden.
Jedes fünfte Kind spricht zu Hause kein Deutsch, zeigt ein Bericht von 2020 des Bundesfamilienministeriums, dass Zahlen zu Mehrsprachigkeit in Kitas veröffentlicht hatte. Nach der Veröffentlichung vermeldeten verschiedene Politiker*innen ihre Sorge darüber. Klar ist jedoch, dass man mehrsprachig aufwachsen und trotzdem - oder gerade deswegen - auch gut die deutsche Sprache beherrschen kann. Expert*innen sind sich mittlerweile einig, dass mehrsprachiges Aufwachsen nicht zwangsläufig zu Nachtteilen in der Sprachentwicklung führt, sondern sie sogar fördern kann. Innerhalb der Gesellschaft herrschen jedoch leider noch viel veraltetes und falsches Wissen, sowie Vorurteile der Dominanzgesellschaft zu dem Thema Mehrsprachigkeit, die Eltern immer wieder verunsichern und dazu bringen ihre Erstsprache nicht weiterzugeben.
Aber warum ist den Deutschen ihre Sprache so wichtig? Das hängt unter anderem mit der Vorstellung von einer deutschen Nation zusammen. Eine Nation definiert sich über eine Gruppe von Menschen mit bestimmten homogen Merkmalen. Das kann die Kultur oder eine gemeinsame Geschichte sein, aber auch die Sprache. Da Deutschland als Staat nicht über eine lange homogene Kultur oder Geschichte verfügt, ist Sprache die bedeutende Einheit, die uns zusammenhält. Das Informations- und Dokumentationszentrum für Antirassismusarbeit schreibt dazu auch: „Die Vorstellung von Einsprachigkeit wird zum Normalfall und Mehrsprachigkeit zur Abweichung gemacht. Jede andere als die nationale Standardsprache erscheint dadurch für die Existenz dieser Art von Nation(alstaat) als bedrohlich.“[1]
Mehrsprachigkeit wird also systematisch als Bedrohung gesehen für die deutsche Nationalidentität. Was sind wir ohne unsere gemeinsame Sprache? Was verbindet uns dann oder was verlieren wir dadurch? Ich habe auch Freund*innen, die wenige bis keine direkten negative Erfahrungen im Bezug auf ihre Mehrsprachigkeit gemacht haben. Das hat unter anderem damit zu tun, dass ihre Eltern von Beginn an versucht haben durch eine starke Assimilation dies zu vermeiden. Sie wollen ihre Kinder vor schlechten Erfahrungen schützen, indem sie ihnen die eigene Muttersprache gar nicht beibringen und ihnen deutsche Namen geben. Alles was sie als migrantisch oder ausländisch markieren könnte wird weggelassen. Dadurch haben sie aber auch oft das Gefühl, dass ihnen etwas fehlt und die meisten bedauern es, dass sie deshalb z.B. nicht mit Teilen ihrer Familie sprechen oder bestimmte kulturelle Besonderheiten schwerer ausdrücken können.
Auf Twitter gab es vor ein paar Jahren mal einen Thread wo ein*e User*in gefragt hat: „What`s considered trashy if you`re poor, but classy if you`re rich?“. Worauf @GNCordova antwortete: „Being bilingual“ [2], also zweisprachig zu sein. Meine Muttersprache, Tigrinya, wurde in der Schule oder innerhalb der Gesellschaft nie als wertvoll oder nützlich angesehen. Es sollte innerhalb unseres Bildungssystems jedoch viel mehr darum gehen, wie man* Erstsprachen miteinbeziehen und ihr Potenzial erkennen kann. In Bayern soll ab 2025 vor der Einschulung die Deutschkenntnisse aller Kinder in einem zweistufigen Verfahren getestet werden. Die Grünen haben es das „Kita-Abitur“ getauft und Julia Post der Fraktion sagt darüber: "Sprachkompetenz kommt nicht von Sprachtests, sondern von Spracherwerb. Dafür braucht es die entsprechende Förderung!".[3] Ich befürchte, dass genau solche Maßnahmen die Ängste von Eltern in Bezug auf die sprachliche Erziehung ihrer Kinder nur verstärkt werden und Mehrsprachigkeit weiter negativ konnotiert bleibt. Man* sollte die vorhandenen Ressourcen der Kinder nutzen und nicht Sprachen verbieten oder abwerten, nur weil man sie nicht für die „Richtigen“ hält.
Oft gibt es Themen im Leben, die viele von uns beschäftigen, über die wir im Alltag, in den Medien oder im gesellschaftlichen Diskurs jedoch wenig sprechen oder ihnen keinen Platz einräumen. Von (Neo-)Linguizismus sind einige Menschen in meinem Umfeld betroffen und doch haben wir erst angefangen wirklich darüber zu reden, als das Thema durch die Ausstellung von Sandra Singh und Francesco Giordano aufkam. Mir hilft es immer meine Geschichte zu teilen und zu hören, wie es anderen Menschen mit demselben Thema geht. Es fühlt sich weniger einsam an, wenn man* weiß, dass viele deine Gefühle teilen oder ähnliches erlebt haben. Deshalb möchten wir nun eure Erlebnisse, persönlichen Erfahrungen und Stories um das Thema (Neo-)Linguizismus hören. Durch den Austausch und das Teilen eurer Geschichten kommen wir hoffentlich einen Schritt weiter zu einer Welt, in der wir aufhören bestimmte Sprachen abzuwerten und die Vielfalt aller zelebrieren.
Quellen: [1] IDA e.V. [2] X.com, ehemals Twitter [3] BR.de
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